Das Saarland ist seine Westentasche

Heute mache ich Station in einem Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert. Es befindet sich in Rubenheim, einem Ortsteil von Gersheim. Hier besuche ich Gunter Altenkirch in seinem „Museum für dörfliche Alltagskultur und des saarländischen Aberglaubens“.

Gunter Altenkirch kennt das Saarland wie seine Westentasche. Den größten Teil seines Lebens hat er im Saarland verbracht. In seiner Kindheit und Jugend lebte er in Beckingen an der Saar. Er machte eine Lehre als Fernmeldemonteur bei Röchling in Völklingen und studierte in Saarbrücken. Er ist diplomierter Wirtschaftsingeneur. Gearbeitet hat er nach seinem Studium zunächst bei Villeroy & Boch in Mettlach und danach als Verwaltungsleiter des Fraunhofer-Institutes in Saarbrücken. Dort war er u.a. für die Optimierung von Organisationsabläufen zuständig.

Schreiben seit Kindertagen

Gunter Altenkirch schreibt seit seinem achten Lebensjahr alles auf, was man ihm berichtet. „Mein Lehrer sagte damals: „Nach dieser Unterrichtsstunde kommst du bitte mal zu mir. Ich muss mit dir ein Wörtchen reden!“ Ich war furchtbar aufgeregt. Ich hatte Angst vor einer Ermahnung und überlegte, was ich wohl angestellt hatte. Nach der Stunde ging ich hin. Mein Lehrer sagte: „Dieses Heft hast du auf dem Pult liegenlassen, ich habe Deine Notizen gelesen. Schreib zukünftig alles auf, was dir die alten Leute erzählen.“ Ich befolgte den Rat meines Lehrers. Manches was ich aufschrieb, war für mich damals als Kind weder logisch noch verständlich – aber wahr. Seit dieser Zeit schreibe ich alles auf.“

Zuhören und Fragen: Zeitzeugeninterviews

Bis heute hat Gunter Altenkirch über mehrere Tausend, überwiegend alte Menschen befragt. Die Interviews führte er mit Privatpersonen aus dem Saarland und den angrenzenden Regionen. Seine Einstiegsfrage lautet meist: „Wie war das damals nommo?“ Er notiert im Protokollstil die geführten Interviews oder zeichnete sie mit einem Tonbandgerät auf. Diese Zeitzeugenprotokolle dokumentieren in erster Linie das Alltagsleben der Saarländer*innen und deren Brauchhandlungen. Sie enthalten detaillierte Informationen, von denen einige bis in den 30-jährigen Krieg zurückreichen. Gunter Altenkirch schrieb bis in die 60er Jahre alles auf, kreuz und quer, auf jedes Stück Papier, sogar auf die Rückseiten von Rechnungen.

Stichwörter auf den Karteikarten: Zum Begriff „Bergleute“ findet man in seiner Sammlung zirka 2.000-3.000 Karteikarten. Zum Glück gibt es die alphabetischen Untergruppen wie: bergmännisch, Brauchtum, Bergleute, Kleidung, Bergmann bis hin zu Hartfüßler. Foto: Sabine Caspar
Stichwörter auf Karteikarten: Zum Begriff „Bergleute“ findet man in seiner Sammlung zirka 2.000-3.000 Karteikarten. Zum Glück gibt es die alphabetischen Untergruppen wie: bergmännisch, Brauchtum, Bergleute, Kleidung, Bergmann bis hin zu Hartfüßler. Foto: Sabine Caspar

In der Bundeswehrzeit hatte er dann kaum die Möglichkeit, Interviews zu führen. Langweilig wurde es ihm dennoch nicht. Er begann, seine Zeitzeugeninterviews zu archivieren. Mit Hilfe von Karteikarten schuf er eine alpahetische Ordnung und startete die Verschlagwortung seiner gesammelten Erkenntnisse aus den Interviews.

Wenn man alle Karteikarten aufeinanderlegen würde, wäre der Karteikartenturm 120-130 Meter hoch. Wahnsinn! Viermal höher als das Saarpolygon.

Seit den 1960er Jahren sammelt Gunter Altenkirch auch Gegenstände. Sein Bestand umfasst zur Zeit etwa 30.000 Exponate. Anfangs suchte er auf Flohmärkten und Schuttplätzen. Heute bringen ihm die Menschen die Gegenstände in sein Museum. Vieles kann er schon nicht mehr annehmen, weil er es bereits mehrfach besitzt. Gesammelt und gezeigt werden Objekte aller Art, die etwas über das Alltagsleben aussagen, vor allem über das Leben der „kleinen Leute“ aus der Region zwischen Trier und Kaiserlautern, dem nahen Hunsrück und dem angrenzenden Lothringen.

Wissen um Vergangenheit erklärt die Gegenwart

Gunter Altenkirch ist Volkskundler. Er sammelt Informationen. Er stellt gerne vielen Leuten die gleichen Fragen zu einem Thema. So bewahrt er ein kollektives Gedächtnis. Dadurch stellt er manchmal fest, dass einzelne Personen, und das besonders heute, auch „Unsinn“ erzählt haben. Er stellt Fragen zu sämtlichen Lebensbereichen der Saarländer*innen und den angrenzenden Gebieten. Er wertet sie aus, vergleicht, ordnet und zieht daraus seine wissenschaftlichen Schlüsse. Seine Sammlungen ermöglichen beispielhafte Forschungen zu Themen wie Hausbau, gesellschaftliche Bräuchen und Rituale, dem Volks- und Aberglauben aber vor allem zur Arbeiterkultur der Saarländer*innen. Seine Ergebnisse veröffentlicht er in Vorträgen, Museen in ganz Deutschland, Ausstellungen und in Büchern.
Aktuell arbeitet er an der Veröffentlichung „Arbeiterkultur des Saarlandes“ innerhalb seiner Enzyklopädie „Saarländische Volkskunde“.

Über 70 Werke hat Gunter Altenkirch zum Saarland verfasst.

Die saarländische Arbeiterkultur

In seinem Museum zeigt Gunter Altenkirch eine beeindruckende Ausstellung „Die SaggArwedd“, ein Stück saarländische Arbeiterkultur.

Ich schaue mich im Museum um! Wo steht der Schwenker? Ist der Schwenker vielleicht auch eine SaggArwedd? Ich sehe keinen.

Früher glaubten viele Frauen an Geister. Diese SaggArwedd ist eine Melusine als Drache, die Geister vertreiben soll. Kerzenleuchter, eine aus Stahlblech gefertigte Sackarbeit, der Schwanz ausgeschmiedet. Punzen- bzw. Meißelzeichnungen. Foto: Sabine Caspar
Früher glaubten viele Frauen an Geister. Diese SaggArwedd ist eine Melusine als Drache, die Geister vertreiben soll. Kerzenleuchter, eine aus Stahlblech gefertigte Sackarbeit, der Schwanz ausgeschmiedet. Punzen- bzw. Meißelzeichnungen. Foto: Sabine Caspar

Gunter Altenkirch klärt mich auf: „Bei der SaggArwedd handelt es sich nicht, wie heute überwiegend geglaubt, um das Basteln von Schwenkern.
Es ging um die Herstellung von Gebrauchsgegenständen für den Haushalt, die Nebenerwerbslandwirtschaft und den eigenen Garten der Arbeiterfamilien“- vor allem in jenen Zeiten, in denen Handel und Industrie die gewünschten Teile nicht oder nur sehr teuer liefern konnten.

Die in der Arbeiterkultur hergestellten Gebrauchgegenstände wurden als „SaggArwedd“ oder „Saggäärwedd“ bezeichnet, weil sie nach der Fertigstellung in den Werkstätten heimlich und unerlaubterweisse in dem „Sack“, also der Hosen- oder Rocktasche oder der Schafftasch durch das Torhaus geschleust wurden. Der am Torhaus kontrollierende Werkschutz hatte so manchen Arbeiter beim Schmuggeln erwischt und einer Bestrafung zugeführt. Es kam aber auch vor, dass sogar der Chef selbst zum Erwischten gesagt: „Kannscht du mir datt do ach mache?“

Auch die  Kinder profitierten von der SaggArwedd. Das Spielzeug wurde beweglich. Die Arbeiter erlangten immer mehr Wissen über industrielle Fertigung. Hier ein Pleuelantrieb für den Geisterreiter, wie er bei Dampf-Lokomotiven zu sehen war. Foto: Sabine Caspar
Auch die Kinder profitierten von der SaggArwedd. Das Spielzeug wurde beweglich. Die Arbeiter erlangten immer mehr Wissen über industrielle Fertigung. Hier ein Pleuelantrieb für den Geisterreiter, wie er bei Dampf-Lokomotiven zu sehen war. Foto: Sabine Caspar

SaagArwedd und Hilfsbereitschaft

Die SaggArwedd entstand aus der Not heraus. Man praktizierte sie nach dem Ersten Weltkrieg. Es fehlte an allem und die Frauen sagten oftmals zu ihren Männern: „Ich brauch noch das und das!“
Der Mann antwortete folglich: „Pass uff, ich guck, dass ich dir datt mache kann.“
Die Arbeiter begannen miteinander über ihre SaggArwedd zu reden:
Mann A: „Aweile zeih ich dir ebbes.“
Mann B: „Datt is awwer gut.“
Mann A: „Ich mach dir ach ens“. Dann hann ich watt bei dir gudd.“
Mann B: „Gudd, unn wenn ich dir watt helfe kann, dann melschde dich.“

Die dadurch entstandene Hilfsbereitschaft festigte die saarländische Arbeiterkultur. Eine enge Gemeinschaft entstand und man war immer bestrebt, gemeinsam Lösungen zu finden. Der Arbeitgeber legitimierte die SaagArwedd meist, indem er schweigend wegschaute. Man wusste um die geistigen Fähigkeiten des Arbeiters und dass dies im Umkehrschluss auch für das Unternehmen von großem Vorteil war. In der Folge entwickelte sich aus Erfindungsgeist der Arbeiter, der SaggArwedd das heutige Verbesserungsvorschlagswesen.

Ich erfahre, dass man damals die Arbeiter gezielt nach ihren Fähigkeiten einsetzte, oft war ein Streit auf der Arbeit der Auslöser: „Der schafft datt nit so schnell, der kann datt net.“ Also suchte man gemeinsam eine andere Arbeit für ihn, die ihm mehr lag. Dieser Arbeiter entwickelte dadurch einen gewissen Stolz: „Ich bin wer, dafür bin ich zuständig, datt weiß ich und datt kann ich.“

Ist der Schwenker eine SaggArwedd?

Gunter Altenkirch hat die Antwort: „Die ersten Schwenker hatten bei uns die Hirten gebastelt. Lange her! Sie bestanden aus einfachen Stöcken, an deren Ende an einem Stück Draht Froschschenkel angehängt waren. Sie hatten die Frösche in der Wiese gefangen, bei lebendigem Leib die Beine durch mehrfaches Drehen ausgerissen, die Haut abgezogen und das Fleisch über einem runtergebrannten Lagerfeuer gebraten. Schwenker, wie wir sie heute kennen, waren keine echten Sackarbeiten mehr. Man bezahlte das Material und machte die Arbeit nach der Schicht. Als ich noch auf der Hütte arbeitete, gab es nie einen Schwenker. Die ersten kamen in den 1970er Jahren auf und sind keine echten Sackarbeiten.“

Also, das hätte ich nicht gedacht!

Lieber Herr Altenkirch, ich bin beeindruckt von Ihrer Energie, Ihrer Akribie, dem Wissensdurst und Ihrer Ausdauer. Sie sind sich all die Jahre treu geblieben: Das Saarland ist Ihre Leidenschaft bis heute. Ihre Museen sind wahre Schatzgruben und Ihre Sammlung ein wertvoller Diamant. Vielen Dank!

geschrieben von: sabine, am 27.08.2021

Teile diesen Beitrag

Gib Deinen Senf ab!

DEINE PRIVATSPHÄRE IST UNS WICHTIG!

Die Tourismus Zentrale Saarland legt großen Wert auf Deine Privatsphäre. Um Dir das optimale Erlebnis auf unserer Website zu gewährleisten, nutzen wir Cookies. Informationen zur Nutzung von Cookies findest Du in unserer Datenschutzerklärung. Du kannst die Einstellungen zur Verwendung von Cookies auf unserer Webseite jederzeit anpassen.

DEINE PRIVATSPHÄRE IST UNS WICHTIG!

Die Tourismus Zentrale Saarland legt großen Wert auf Deine Privatsphäre. Um Dir das optimale Erlebnis auf unserer Website zu gewährleisten, nutzen wir Cookies. Informationen zur Nutzung von Cookies findest Du in unserer Datenschutzerklärung. Du kannst die Einstellungen zur Verwendung von Cookies auf unserer Webseite jederzeit anpassen.

Deine Einstellungen wurden gespeichert